Claus Kühnl
* 1957

er muoz gelîchesame die leiter abewerfen, sô er an ir ufgestiegen 
Zu meinem Klavierstück <Wurzeln des Zufalls>



Leitern und Gerüste

Jenes mittelhochdeutsche Zitat aus dem 13. Jahrhundert deute ich als Metapher für die Nichtidentität von primärem Herstellungsvorgang eines Kunstwerks und dessen (verborgenem) Sinn. In besonderem Maße kam mir dies wieder zu Bewußtsein während der Arbeit an meinem Klavierstück, "Wurzeln des Zufalls" betitelt*.
Man muß gleichsam die Leiter abwerfen, nachdem man an ihr aufgestiegen ist: es gab bei diesem Stück ein Verfahren, welches stärker als bei meinen bisherigen Kompositionen von statistischen Formkriterien bestimmt wurde. Bestimmte von mir zu Anfang festgelegte harmonische, rhythmische und dynamische Elemente sollten in allen möglichen Elementverbindungen vorkommen. Je vier Elemente für die drei Parametergruppen (Harmonik/Rhythmik/Dynamik) ergeben 64 Kombinationsmöglichkeiten (4x4x4). Die agogischen Elemente wurden gesondert behandelt, aber auch einer Statistik unterworfen. Vor der konkreten musikalischen Realisation waren alle 64 Elementverbindungen in ihrer zeitlichen Reihenfolge vollkommen austauschbar: diese habe ich dem Zufall überlassen, indem ich blind jeden Tag ein oder mehrere der gut gemischten Kärtchen, auf denen die Kombinationen mit Buchstaben und Zahlen festgehalten waren, zog.
Damit ist die "Leiter", die mir zum "Aufstieg" diente, kurzerhand beschrieben. Sie sagt natürlich noch überhaupt nichts über das Stück aus, aber sie stellte mir eine Skala von Kombinationsmöglichkeiten zur Verfügung, die ich sonst vermutlich nicht alle hätte ausschöpfen können, oder wie Helmut Lachenmann es einmal ausgedrückt hat: "Ob ich solch ein Gerüst schließlich wieder ganz abstoße, ob Reste davon in der Komposition einen Platz finden oder ob es tatsächlich die Struktur des Ganzen reguliert; in jedem Fall hat die Auseinandersetzung damit meiner Phantasie über ihre eigenen Grenzen hinweggeholfen und mir klar gemacht, was ich eigentlich will."


Sinn und Unsinn

Bei der kompositorischen Umsetzung jener abstrakten statistischen Kriterien ließ ich mich zu Beginn von spontanen Einfällen leiten, deren musikalische Ergebnisse mich sehr zufrieden stellten. Im weiteren Verlauf entschied ich stets von Neuem, ob ich eine Beziehung** zwischen bereits vorhandenen Elementgruppen herstellen wollte oder nicht, bzw. ob die neuen Entscheidungen - wie zu Beginn der Realisation - von spontanen Impulsen getragen werden sollten. Häufig war zwischen dem Bewußtsein der Tat und der spontanen Idee fast kein zeitlicher Unterschied.
Dies war das Schönste.
Gleichzeitig muß bemerkt werden, daß sich alle spontanen Entscheidungen von mir automatisch im Rahmen bestimmter Affinitäten bewegten, die durch meine eigene "Geschichte", meine Erfahrungen als Komponist feststanden.
Dies lag in meiner Absicht, denn es ging mir nicht im Geringsten um Willkür oder um Abwendung von meinen früheren Prinzipien, sondern um größtmögliche Vielfalt aus der Einheit. Der Zufall öffnete mir ein Feld unvorhergesehener Ereignisse innerhalb einer "praestabilierten Harmonie" (meinen Affinitäten): jenes absichtslos-absichtsvolle Spiel mit der klanglichen Materie schien mir unendlich viele Konstellationen innerhalb eines riesigen Rahmens hervorzubringen. Aber auch der Rahmen war in gewisser Weise nicht starr begrenzt, sondern dehnbar, wie ein imaginäres Kaleidoskop, dessen Bestandteile nicht nur in unterschiedlichen Kombinationen aufeinander treffen, sondern ganz allmählich über den Rand des Gefäßes treten und neue Teile einlassen können.


Spiel und Absicht

Die Realisierung der 64 Elementverbindungen konzipierte ich als Teil 1 der drei Teile des Klavierstücks. Der dritte Teil wiederholt den ersten Teil rückwärts mit Auslassungen: auch nach ihrer primären Anordnung sind die Elementverbindungen also in gewisser Weise vertauschbar geblieben, wie man an dem Retrogrado sieht, wenngleich dies nun nicht mehr dem Zufall überlassen blieb.
Der zweite Teil - die einzigen Momente im Stück, die einstimmig verlaufen - wurde wieder spontan niedergeschrieben: allerdings benutzte ich ausschließlich Klangmaterial des ersten Teils, sodaß sich dieser Abschnitt in etwa so verhält wie eine Kadenz im klassichen Instrumentalkonzert zu ihren Themen, auf die sie Bezug nimmt. Auf andere Weise als die Zufälle im ersten Teil werden jene Strukturen somit ebenfalls von einer "praestabilierten Harmonie" getragen.

 
(1994)
   
  * Das Stück wurde angeregt von der Lektüre des gleichnamigen Buches <The Roots of Coincidence> (1972) von Arthur Koestler;dt. Ausgabe Bern, 1974. Das besondere Interesse galt Kapitel 3: Serialität und Synchronizität.

** Beziehung herstellen bedeutete hier: die Strukturen, die nicht statistisch bestimmt waren, den vorausgegangenen Lösungen ähnlich machen, oder sie nach komplementären Möglichkeiten weiterführen.