Der in Wiesbaden lebende Komponist Claus Kühnl sucht Zukunftsweisendes im Vergangenen/Folge 1 der KURIER-Serie

 
Vom 20.12.2000

Von KURIER-Redakteur

Volker Milch

In einer neuen Serie wird der KURIER in loser Folge Komponistinnen und Komponisten aus der Rhein-Main-Region vorstellen. Den Anfang macht der 1957 in Arnstein geborene Claus Kühnl, der in Wiesbaden lebt und in Frankfurt lehrt.  
Weit reicht der Blick nicht aus der Wiesbadener Dachwohnung von Claus Kühnl: Hinterhaus mit Hinterhof. Trotz der Enge sieht der Komponist „lauter offene Horizonte“. Er habe, sagt er im Gespräch, „im Moment das Gefühl, ganz neu zu beginnen,“

habe sich von „früheren Göttern“ verabschiedet.

„Der Gott meiner frühen Jahre war schon Messiaen“, wird er später erzählen, seine „katholische Sinnlichkeit“ sei ihm durchaus vertraut. Da mag man Claus Kühnls Herkunft aus einer sehr barocken Region spüren.

Sein erster „Gott“ aber war Mozart. Ein Mozart-Autograph hat er während seiner „naturverbundenen Kindheit“ in der unterfränkischen Idylle abgeschrieben, Freude an der Kalligraphie entwickelt, aber auch schon früh selbst komponiert. Nach den Internatsjahren studierte er in Würzburg und Frankfurt. In Frankfurt lehrt er nun am Hoch´schen Konservatorium Komposition und Analyse.

Der Komponist wünscht sich „ein bildloses Hören, ein Hören, das durch keine Assoziation belastet und entstellt wird“. Für die Konzeption einer reinen, bildlosen Musik in seinem Oeuvre steht die Komposition „Offene Weite“ für Kontrabass und Klavier, mit anderen Instrumentalwerken aus seiner Feder gerade als CD veröffentlicht (Cavalli Records CCD 243). Natürlich ist ihm klar, dass es die absolute, nach romantischer Musikästhetik klingende Reinheit der Musik nicht geben kann, es geht um ein Ideal, dem er sich annähern möchte. Und natürlich evoziert auch schon der Titel von „Offene Weite“ eine räumliche, nichtmusikalische Vorstellung, in die sich dann der akustische Eindruck einfügt. Es ist ein Werk, in dem die zu aparten Klangereignissen führende Instrumental-Kombination sehr phantasievoll genutzt wird, ein Werk, in dem atonale Reihenbildungen neben tonalen Feldern stehen.

Zwei Komponisten-Seelen, bekennt Claus Kühnl, wohnten in seiner Brust. Die von ihm selbst bevorzugte favorisiert den „reinen Musikbegriff“ mit Werken, in denen „Zitate keinen Platz haben“. Die zweite „Seele“ wird von dem „reflexiven Musikbegriff“ angesprochen. Da haben Zitate und die ganz konkreten Auseinandersetzungen mit der Tradition sehr wohl ihren Platz: In vielen Werken bezieht Kühnl sich auf Kompositionen des 19. Jahrhunderts, auf Grieg, zum Beispiel, oder, ganz aktuell, auf Wagners letztes Notenblatt, 13 harmonisch kühne Takte, die mit „Palermo, 25.12.1881“ überschrieben sind. Kühnl hat dazu eine Einleitung und eine zusätzliche Stimme geschrieben. Das Werk geht auf einen Auftrag des Künstlerhauses Villa Concordia in Bamberg zurück, sozusagen einer fränkischen Villa Massimo, in deren Stipendiaten-Kreis Kühnl aufgenommen wurde.

Stipendiat der römischen Villa Massimo war er übrigens auch, in den Jahren 1990/91. Zu seinen Lehrern in Würzburg und Frankfurt zählten Bertold Hummel, Hans Ulrich Engelmann, Zsolt Gárdonyi, Julian von Karolyi und Hanns Reinartz, zu den Leitfiguren auch Henri Dutilleux, der während eines Paris-Stipendiums 1983 für Claus Kühnl wichtig wird.

Der Komponist hat im Musiktheater-Bereich, neben der für die „Frankfurt Feste“ entstandenen Phantasmagorie „La petite Mort“ (UA 1991), schon eine abendfüllende Oper vorzuweisen: „Die Geschichte von der Schüssel und vom Löffel“ nach Michael Endes gleichnamigem Kinderbuch, 1999 in Bielefeld uraufgeführt, der „treuen Stadt“, in der er immer wieder Unterstützung fand. Ein skurriles Stück, in dem Dummheiten schließlich zum Krieg führen: für Kühnl Anlass für eine bösartige, bissige Musik.

„Ich möchte Ihnen etwas vorspielen“, sagt er immer wieder im Verlauf des Gesprächs, geht ans Klavier im Nebenzimmer oder wirft den CD-Player an. Zum Beispiel, um den Gast in seine Liszt-Bearbeitungen hineinhören zu lassen: „Die Einsamkeit des Franz Liszt“ ist der Titel des Werkes, einer „Auslotung dreier später Klavierstücke Liszts“, 1992 unter der Leitung von Hans Drewanz mit Darmstadts Staatsorchester uraufgeführt. Wir hören „Nuages gris“ in Kühnls das Klavierstück sozusagen ins Jahr 1910 verpflanzenden und einem Webern-Werk anverwandelnden Instrumentation, mit einem das Grelle unterstreichenden Klangfarben-Spiel. Ein gutes Beispiel dafür, dass es dem Komponisten in seinen „reflexiven“ Werken nicht um eine museale Hinwendung zur Vergangenheit geht, sondern darum, das Zukunftsweisende im Vergangenen aufzufinden, letztlich die historische Notwendigkeit auch des Weges in die Atonalität, die „zwingende Entwicklung“ zur Moderne hin, wie er meint.

Und das Komponieren in unserer Zeit? Wir sprechen über die magere Präsenz des Zeitgenössischen im Musikleben, dabei über die starke Gegenwart Wolfgang Rihms. Für Kühnl schon ein „Klassiker“, mit „epochalen Stücken, Sprengsätzen gegen das akademische Denken in der Neuen Musik der 70-er Jahre“. Die Sprengungen aber seien heute längst vollzogen: „Wir sind befreit, es geht eher wieder darum, Verbindlichkeit herzustellen“.