Claus Kühnl

Klassische Ordnung erweitert
Bertold Hummel - Komponist im zwanzigsten Jahrhundert

Bertold Hummel, dessen Metier das Komponieren und nicht das präzise Reden und Schreiben über Musik gewesen ist, hat sich, auf sein Schaffen zurückblickend, in den vergangenen fünf Jahren hin und wieder selbst als Eklektizisten bezeichnet. Da er natürlich wusste, dass dieser Begriff in der Regel als Negativvokabel gebraucht wird - "eklektisch" meint: aus Vorhandenem auswählend, daher unoriginell - sprach er manchmal von einem "schöpferischen Eklektizismus".

Im Nachruf der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 12. August 2002 schrieb Michael Gassmann: "Er sah sich als jemand, der ,sämtliche Experimente beobachtet und analysiert hat’.
Bertold Hummel war also alles das, was ein Avantgardist nicht ist - aber er war ein Begeisterter."
Dies scheint mir etwas überspitzt formuliert, enthält aber einen wahren Kern. Worin unterschied sich also Bertold Hummels Musik machen von dem der Avantgarde der fünfziger und sechziger Jahre, denn dies waren die entscheidenden Jahre seiner Generation, und wenn er ein Begeisterter war, wovon war er begeistert?
Programmatisch für die gesamte musikalische Avantgarde formulierte Karl-Heinz Stockhausen in seinem Arbeitsbericht 1952/53 deren ästhetischen Ansatz wie folgt: "Auf die unmittelbare Klangvorstellung kann man sich nicht mehr verlassen. Die Klangvorstellung ist durch alle Musik bestimmt, die man bisher gehört hat. Wenn sie weiterhin Gültigkeit hätte, müsste man sich auch weiterhin der klassischen Ordnung fügen." 1

Die schöpferische Alternative zum Weitermachen wie bisher brachte bekanntlich die serielle und die elektronische Musik hervor, deren Genese anfangs mit seriellen Methoden zustandegebracht wurde. Bertold Hummel hat in der Tat keines seiner Werke auf serielle Techniken gestützt. Mir gegenüber erwähnte er einmal, er hätte in seinen Anfängen Studien mit totaler Vorherbestimmung von Tonhöhen, Dauern und Klangfarben durchgeführt, sei aber von den Ergebnissen abgestoßen gewesen.
Hummel sah für sich keine Notwendigkeit, den klassischen Ordnungen die Gültigkeit abzusprechen. Freilich wollte er sich ihnen auch nicht ohne weiteres fügen. Er wollte diese Ordnungen, wo es seine schöpferische Neugierde gebot, erweitern und um eigene Lösungen bereichern: Dies war seine, im Anfang meines Unterrichts bei ihm stets betonte Vorstellung von Originalität. Deshalb rang er, ab den siebziger Jahren mit zunehmender Hartnäckigkeit, um einen Personalstil, während die Avantgarde einem solchen Bemühen ausdrücklich abschwor und mit jedem Werk die Musik gewissermaßen neu erfinden wollte. In diese Richtung zielt auch ein Satz der noch jungen Komponistin Isabel Mundry: "Dem, was man kann, in einem kreativen Sinn misstrauen - ich hoffe, mich so zu bewahren und zugleich in Bewegung zu halten. Vielleicht gelingt einem Authentizität eher, wenn man vermeidet, sie zu pflegen." 2
Stehen sich hier womöglich zwei miteinander unvereinbare Haltungen gegenüber?
Tatsache ist, dass Bertold Hummel bis zuletzt der kreativen Spontaneität mit anschließend akribischer Ausgestaltung eines jeden Details Priorität in seinem Arbeitsprozess eingeräumt hat.
Dass seine Klangvorstellung durch "alle Musik, die man bisher gehört hat", mitbestimmt wurde, war für ihn ganz natürlich und kein Grund, gegen diese Tatsache zu rebellieren. Darüber hinaus kannte er die Errungenschaften seiner Epoche, auch solche, deren Segnungen er nicht akzeptierte. Man könnte in Bezug auf die Musik seiner Zeit sagen, er war topp informiert und jeder, der ihn kannte, weiß, dass er jedes Jahr in Donaueschingen anzutreffen war, kaum eine wichtige Rundfunksendung seiner Region ausließ und mit seinen ehemaligen Schülern alles durchdachte, was man ihm vortrug. Allerdings hatte er - wie jeder Komponist - gewisse Vorlieben. Er liebte den Gregorianischen Choral, die Klassiker, Anton Bruckner, Alban Berg, Paul Hindemith und Olivier Messiaen, dem er sich auch in der Verlebendigung des Katholizismus verbunden fühlte.
Von ihnen war er begeistert und deren Musik ist durch ihn hindurchgegangen und hat Kraft seiner verwandelnden Persönlichkeit einen neuen Stil hervorgebracht.


1   Karl-Heinz Stockhausen, Texte zur elektronischen und instrumentalen Musik, Köln 1963, S. 32

2   Isabel Mundry, Booklet-Text zur CD des Deutschen Musikrates, WERGO